Elinor von W. – die Tapfere

„Verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe.“ Elinor sitzt in ihrem Sessel am Fenster – ein kleines Persönchen, vom Leben geschrumpft – zur Rechten ihr Kräutertee, links ein kleiner Stapel mit Büchern, ganz oben die Herrnhuter Losungen. Ihre Füße, die in eleganten Schuhen stecken, hat sie weit von sich gestreckt. Die 96-Jährige war offenbar noch einen Moment eingeschlafen: Ungläubig blinzelt sie mich aus kleinen Äuglein an.

An den Wänden hängen einige Fotos: große Gutshäuser, die Mauern von Tallin, weite Landschaften. „Ich bin dort aufgewachsen“, erzählt sie. Sie war eine Adelstochter, im Dom von Tallin – damals hieß es noch Reval – hängt bis heute das Wappen ihrer Familie. Und sie lässt das alles wieder geschehen: die Ausritte im weiten Land, das Flüsschen vor dem Haus, in dem sie mit ihren Geschwistern badete, der Hügel, der im Winter zum Rodelparadies wurde. Sie erzählt. Nicht als wäre es gestern gewesen – sie erzählt, als wäre es das Jetzt, als wäre sie dort und wieder Kind.
„Heute ist alles kaputt“, sagt sie, „nicht einmal der Fluss ist noch da.“ Wie so viele andere kehrte sie später an den Ort ihrer Kindheit zurück und fand ihn doch nicht wieder.

Über Nacht musste die Familie Estland verlassen und wurde im polnischen Korridor angesiedelt. Und auch den musste sie wenige Jahre später über Nacht verlassen. Die damals 26jährige Elinor war verantwortlich für die Organisation der Flucht. Acht Pferde, dazu das Nötigste für die Versorgung über Wochen. „Das alles lag auf meiner Schulter.“ Und auch jetzt wieder: Sie erzählt, und in ihren Worten wird das alles Gegenwart. Sie sieht jeden Wagen vor sich, nimmt noch einmal jedes Stück Silber in die Hand, durchwacht noch einmal jene Nacht im Januar 1945 bei 19 Grad Minus.

betend

Ihr Mann starb, als die Kinder 13 und 15 Jahre als waren. „Beide in der Pubertät, das war wirklich hart“, sagt sie. Die Versorgung war ungeklärt, Elinor musste arbeiten gehen, um ihre kleine Familie durchzubringen. Und sie erzählt mir von ihrem Lebenskummer, erzählt von dieser Wunde, die wohl jeder von uns hat, diese eine, die nicht heilen will. Der Glaube habe ihr geholfen, sagt sie, sie habe so viel Bewahrung erlebt, so viel Hilfe erfahren. „Da kann man nur dankbar die Hände falten.“

Seit zehn Jahren lebt sie in einer kleinen Einliegerwohnung im Hause ihres Sohnes. Morgens kommt die Diakonie. Fast jeden Tag ist Elinor unterwegs und bemüht sich, noch in Gesellschaft zu sein, obwohl sie kaum mehr gehen und nur noch schlecht sehen kann: dienstags Spielenachmittag, mittwochs der Handarbeitskreis, donnerstags die Volkstanzgruppe, und am Freitag darf die Marktandacht nicht fehlen. Im vergangenen Jahr war sie sieben Monate im Heim, hat sich dann aber zurück in die Selbstständigkeit gekämpft. „Vom Mut alter Menschen“ – der Titel habe ihr nicht gefallen, sagt sie. „Ich musste Mut haben, um die Kinder zu erziehen. Aber braucht man Mut, um alt zu werden? Das wird einem aufgezwungen.“

Sie bringt mich zur Tür, es geht erstaunlich gut. Im Vorbeigehen zeigt sie mir ihre kleine Wohnung.
Ich verspreche ihr wiederzukommen. „Warten Sie nicht zu lang“, sagt sie, „ich muss noch eine Reise unternehmen.“
Ich verstehe nicht gleich. Sie sieht mich an, und dann dreht sie die Augen nach oben. „Die Kinder mögen nicht, wenn ich vom Sterben spreche. Da rede ich halt vom Verreisen.“ Und dabei lacht sie schelmisch. Richtig jung sieht sie plötzlich aus.

Sie wird, denke ich, dem Tod wie eine Grande Dame entgegengehen, ihm galant die Hand reichen wie zum Tanz. Stolz und Würde umgeben sie wie Licht: Jetzt, wo sie aufrecht steht, sehe ich es noch deutlicher. Ihr Körper mag vom Leben gebeugt sein. Ihr Geist und ihre Seele sind es nicht.

Elinor von W.

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