Lisa B. – die Kämpferin

„Herein!“ – schon ihr Willkommen klingt gut. Nicht fragend, nicht ängstlich und auch nicht klagend. Lisa B. sagt es bestimmt, selbstbestimmt. In ihrem allerersten Wort ist schon die Autonomie spürbar, die diese resolute, alte Dame sich bewahrt hat – trotz des Lebens im Heim und seiner Routinen.

Sie braucht einige Sekunden, um ihren Rollstuhl in meine Richtung zu drehen. Das Ding ist schwer, ein moderner Elektro-Rollstuhl, dessen Steuerelement sie mit der rechten Hand bedient. „Hat die Krankenkasse ohne Zögern bewilligt“, erzählt sie später fröhlich. Zehn Zentimeter vorwärts, dann links zurück, dann nochmal ein Stück rechts nach vorne – und endlich sieht sie mir entgegen. „Schön, dass Sie da sind“, sagt sie, „ich hab mich auf Sie gefreut.“

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Lisa erzählt fließend und sachlich. Von ihrem Leben, von ihren 80 Jahren. Von der langen Zeit, die sie in ihrem Geburtsort, in einem kleinen Fischerort an der Westküste, verbracht hat. Von ihrer Sandkastenliebe, ihrem Ehemann, der vor sechs Jahren starb. Und dann weint sie ein bisschen, weil der Abschied so schwer war. Zehn Wochen hatte er nach einer Routine-OP im Koma gelegen. „Wenn ich bei ihm war, wollte ich nach Hause. Und wenn ich zuhause war, wollte ich zu ihm.“

Lisa ist gelernte Schneiderin. „Meine Mutter hat das so gewollt, ich wurde da nicht groß gefragt.“ Und der Wille der Mutter erwies sich als Segen: Nach der Hochzeit richtete sie sich im Haus ihre kleine Schneiderstube ein. So konnte sie zu Hause sein, ihr Kind betreuen und gleichzeitig Geld verdienen, das die Familie gut gebrauchen konnte. „Ich habe viel gearbeitet“, sagt sie nachdenklich. Haus und Kind und Garten, später Feriengäste – da war immer etwas zu tun.
Krank wurde sie schon mit Anfang 60. Der Rücken. Viele Operationen, keine mit durchschlagendem Erfolg. Jetzt ist sie auf Hilfe angewiesen, kann aus eigener Kraft den Rollstuhl nicht verlassen. Bekümmert zeigt sie auf ihre linke Hand, die schlaff über der Rollstuhllehne hängt. „Ich habe so gerne noch Handarbeiten gemacht“, sagt sie. „Jetzt kann ich gar nichts mehr.“

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Das Haus ist verkauft, seit einem Jahr lebt Lisa im Heim. Sie hat kaum was mitgenommen: Ein paar Bücher, ein paar Bilder – sie braucht nicht mehr viel. Sie telefoniert gern mit den Freunden von früher. Sehr bewusst nimmt sie wahr, was um sie herum geschieht: Hautnah sind hier Krankheit und Verfall. Manchmal muss sie sich abgrenzen. „Das musste ich lernen“, sagt sie. Und: „Ja, es gehört Mut dazu, alles zurückzulassen und neu anzufangen.“ Und neu anfangen, das tut sie: Sie geht zum Tanztee und zum Singkreis, zur Gymnastik und zu jedem Fest im Haus. Sie ist dankbar für die Liebe und den Respekt, mit dem die Mitarbeitenden ihr begegnen und gibt beides nach Kräften zurück.„Ich hab’s gut hier“, sagt sie, „ich muss mich um nichts mehr sorgen.“

Nachdem wir uns verabschiedet haben, fahre ich direkt in diesen Ort, der ihr so lange Heimat gewesen ist. Sie hat mich neugierig gemacht. Ich sehe sie vor mir: als Kind zwischen den Häsuern, als junge Frau nachts an der Nähmaschine und zunehmend hilflos in dem viel zu großen Haus. Sie hat eine mutige Entscheidung getroffen. Sie hat alles richtig gemacht.

Lisa

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